Reservoir für künftigen Honig
Sandra Boeschenstein
5.09 – 07.11.2015
Entzeichnungen
Drei Paratexte für Sandra Boeschenstein
I
Walter Benjamin hat in einem seiner kaum beachteten Hörspiele aus den frühen 1930er ein Sitzungsprotokoll des ›Mondkomitees für Erdforschung‹ inszeniert.1 Mittels dreier Apparate beobachten die ›Mondwesen‹ das Leben auf der Erde. Zu diesen Gerätschaften gehört ein sogenanntes ›Spectrophon‹, durch welches alles gehört und gesehen werden kann, ein Parlatorium, mit dessen Hilfe menschliche Sprache in Musik übersetzt wird und ein Oneiroskop, das die Träume aufzeichnet und intelligibel macht. Die von Benjamin entfaltete Dramaturgie, getarnt als Parodie der Gelehrtenkultur des 18. Jahrhunderts, suggeriert eine bestimmte Lektüre der Apparatur-Allegorie: Die auf die ferne Erde gerichteten Beobachtungstechniken können nur von solchen Akteuren bedient werden, die in ihren Verhaltensweisen und Erkenntnisinteressen mit den Erdbewohnern vergleichbar sind. Die ›Männer im Mond‹ beruhen folglich auf einer terrestrischen Fantasie, die als Allegorie des Wunsches nach transzendental begründeter Selbstbeschreibung gelesen werden kann.
Betrachten wir nun analog zu diesem rätselhaften Beobachtungsprotokoll die gestempelten Figuren in Sandra Boeschensteins Skalenflattern als Protagonisten eines ebensolchen Mondkomitees. Der ›Mond‹, sofern es sich um einen solchen handelt, wird von den Figuren trotz seiner innerbildlichen Gleichzeitigkeit nicht direkt gesehen, sondern als Bildobjekt der Beobachtung erst durch ein Medium erschlossen. Die Forscher sind daher primär mit ihren Apparaturen beschäftigt. Da diese Apparaturen aber auf einzelne Subjekte hin konzipiert wurden; ihre Kurbeln auf eine Hand und das Okular auf nur ein Augenpaar abgestimmt sind, lassen sie sich schlechthin nicht ›gemeinsam‹ benutzen. Dies erklärt nicht zuletzt die Isolierung der Bildelemente. Boeschensteins gezeichnete Beobachtungstechniken sind, nicht anders als das Zeichnen und mithin die meisten Abläufe künstlerischer Arbeit, Einsamkeitstechniken. Wir hingegen sehen und verstehen genau dies; wie eine allegorische Lektüre von Benjamins Hörspiel, führen auch Boeschensteins Zeichnungen zu einer beobachtenden Beobachtung, die neben der Semantik auch deren Hervorbringung freilegt.
1 Walter Benjamin, »Lichtenberg. Ein Querschnitt« (1933), in: Drei Hörmodelle, Frankfurt am Main 1971, S. 52–86.
II
Die assoziative Erinnerung an den Mond, dem »letzten Platzhalter der Anthropozentrik«2, wie sie sich mit William Gilbert, Galileo Galilei und Johannes Hevelius zeichnerisch auch im kulturellen Gedächtnis verankert hat, ist in Boeschensteins Blättern bewusst zweideutig gehalten. Als Pendant zu den Mondzeichnungen des 16. und 17. Jahrhunderts ist auch die Petrischale, als Erfindung des 19. Jahrhunderts, assoziativ denkbar. In ihr kehrt sich die Deutung der lunaren Form als Mondgesicht auf äussert unromantische Weise in die Praxis einer imaginären oder zufälligen Erzeugung von Lebensformen. Eine andere Ambiguität schreibt sich hingegen in die Nähe- und Distanzmetaphern von Fernrohren und Fingerabdrücken ein. Ferngläser befinden sich stets nah am Auge des Astronomen, aber lassen weit in die Ferne schauen. Fingerabdrücke können indes nur durch unmittelbare Nähe von Körper und Trägermedium erzeugt werden, sind jedoch nur als Abdruck, also in Distanz von Körper und Blatt, für forensische Massnahmen sicht- und brauchbar. Nähe- und Distanzmetaphern erklären daneben auch den interdependenten Darstellungssinn von Seilen und Heissluftballons: Am unteren Ende greifen Hände zu einem Linienseil, Fäden ragen teils aus dem Bild ohne den planetaren Körper zu berühren und werden im Bildganzen als disparate objets trouvés erfasst, was auf das zeichnerische ›Entwerfen‹ (etymologisch von ›Weben‹) verweisen könnte. In den ballonartigen Kokons wird die Nähe von Fingerabdruck mit der Ferne einer möglichen Vogelperspektive verschränkt. Eine »pleinair Betrachtung der Schatten von Fingerabdrücken« findet laut eines Textes einer anderen Zeichnung statt. Die nach unten geneigten Ferngläser sind darüber hinaus auf die Entfernung zur Erde und einen ›Rückblick‹, eine Art ›Retrospektive‹, zu beziehen; auch da die Monde frei in der kosmischen Leere des Blattweiss zu schweben scheinen, währenddessen gleichzeitig ein sicherer Boden unter den Füssen der Stempelfiguren angedeutet ist.
Nähe und Distanz spielen nicht zuletzt im künstlerischen Verfahren eine wichtige Rolle. So sind die Kreisflächen nicht im klassischen Sinne ›handzeichnerisch‹ gezogen, sondern von einer mit Tuschefilm präparierten Wasseroberfläche abgelöst. Der Fleck – die aleatorische ›macchia‹, wie sie bereits Leonardo faszinierte – korrespondiert so mit den ebenfalls gedruckten Stempelfiguren, deren Konturen aber weit dunkler und damit vordergründiger in Erscheinung treten. Wenn der Handstrich – der vielfach beschworene gestische Duktus der Handzeichnung – eine Identität von Körper und Zeichen nahelegt, zeugt der Stempel von einer andersartigen Verkörperung im Bilde, die im Grunde auf die menschliche Hand auch verzichten könnte.
2 Hans Blumenberg, Die Vollzähligkeit der Sterne, Frankfurt am Main 2000, S. 172.
III
Unter welche Kategorie von Zeichnungen fallen Boeschensteins graphische Blätter aber, wenn Linien nicht nur mit der Hand gezogen werden, sondern auch gestempelte Figuren eine zentrale Rolle in der Gestaltung spielen?
Sicher ist, dass es keine blossen ›Abzeichnungen‹ sind, da keine bestehende Wirklichkeit die allegorische Dichte der disparaten Konstellationen erzeugen würde. Weil kein anderes Werk auf Boeschensteins Papierarbeiten folgt, sind es zudem keinesfalls ›Vorzeichnungen‹ und auch keine einfachen semantischen ›Bezeichnungen‹ nach dem Muster ›entweder/oder‹, sondern tendenziell Figurationen ambiguer, doppel- oder mehrdeutiger, teils auch undeutlicher Assoziation, in denen ein Rest an ›Unsinn‹ gegen Erklärungsmodelle persistiert.
Was, wenn Boeschensteins künstlerische Anschauung die Welt also vielmehr ›entzeichnen‹ würde? Wenn innerhalb der Sprache sowohl ›Entsprechungen‹ als auch ›Entstellungen‹ existieren, so in der Graphik womöglich in seltenen Fällen auch ›Entzeichnungen‹, die Erinnertes mit Unbekanntem, Bedeutungsnähe mit Sinnentfremdung verschränken. Was sich so in ihnen ›entzeichnet‹, kann durch einen Paratext nur annähernd ›aufgezeigt‹ oder ›angezeigt‹ werden, und vielleicht wimmelt es gerade deswegen in den Zeichnungen von Figuren, die als absolute Metaphern des Blickwechsels selbst auf anderes verweisen: Auf die andere Seite einer planetarischen Weltanschauung, auf die andere Tageszeit, einen andersartigen Ort, die Polarität einer Lichtquelle im Schatten und Dunkel oder – wie im Handschuh und Fernrohr – auf die inhärente Möglichkeit bestimmter Objekte zur Umstülpung oder Selbstumkehrung.
Wendet man einen einfachen Bleistift, wird bisweilen ein Radiergummi am anderen Ende zum Vorschein kommen, der dann das, was vorher gezeichnet war, ausradieren kann. Der Stempel kennt am anderen Ende hingegen allein den Knauf für eine entschlossene – Boeschenstein würde sagen: ›behauptende‹ – Hand(lung). Diese Paradoxie von Behauptung und bildimmanenter Reversion führt über die textuellen Versatzstücke direkt in die allegorische Anschauung – und provoziert so nicht zuletzt die Deutung, auch wenn diese keine Endgültigkeit beanspruchen braucht. Wenn im Zeichnen, frei nach Boeschenstein, das Mögliche zur Geschwindigkeit der Wirklichkeit wird, verlangsamt sich dieses Verhältnis im deutenden Blick und Kommentar. Im Betrachten und Nachdenken bewegt sich das Zeichnungsmögliche in einer wirklichen, deutungsoffenen Latenzzeit.
Toni Hildebrandt Lissabon, Juli 2015