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20.11.14 - 17.01.15 

nitro

 

Drei in metallischen Farben schillernde, zu einem bewegten Relief plastisch verformte Tafeln beherrschen die Räume der Galerie Idea Fixa in Basel (20. November 2014 bis 17. Januar 2015). Wie beiläufig lehnen sie an der Wand des White Cube oder liegen auf dem Boden und heben sich in ihrer visuellen Präsenz deutlich von der hellen Umgebung ab. Je nach Lichteinfall changieren die Farbtöne in einem breiten Spektrum zwischen grün, silber, dunkelviolett, bzw. türkis, pink, blau und gold, rosa, braun – deformierte Einzelteile, Materialproben einer Lackiererei für Autotuning oder neue Formen eines skulpturalen Tafelbilds?

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Tatsächlich entstand die Flip Flop-Lackbeschichtung der PVC-Platten in einer Autolackiererei in Marzahn, ehemals Ost-Berlin. Nach einer Blütezeit bis zum Beginn der 2000er Jahre scheint diese auffallende Ausprägung einer urbanen Ästhetik im Absterben begriffen – nur noch drei Farbkombinationen existieren heute. Elemente einer nicht allseits anerkannten, trashigen Subkultur, einer populären low art sind hier in den „Adelsstand“ der sogenannten Hochkunst erhoben, einfaches allseits gebräuchliches Material aus der Industrie (PVC) fungiert als Untergrund für die technisch aufwändige Beschichtung dieses seltenen Lacks, den auch Künstler wie Anselm Reyle und Thomas Schütte zu schätzen wissen.

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Die Bilder des in Berlin lebenden und an der dortigen UdK studierenden Julian-Jakob Kneer brechen mit vorherrschenden Tabus, suchen die Nähe zu gefälligen Designobjekten und stereotypen Vorstellungen von (banalem) Kitsch, um die Grenzen erneut zu überdenken. Der Titel der Ausstellung nitro rekurriert auf eben diese Verbindung. Das vielfach gebrauchte Präfix weckt u.a. Assoziationen an hochexplosives Nitroglyzerin, das in Treibstoff enthaltene Nitromethan zur Leistungssteigerung von Verbrennungsmotoren (Lachgaseinspritzung), eine US-amerikanische Metalband, blutdrucksenkende Medikamente oder Nintendo-Spielkonsolen. Auch zwei Städte in Kalifornien und West Virginia tragen diesen Namen.

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Neben der postmodernen Infragestellung von Autorenschaft und dem Verschwinden des Subjekts durch die Auslagerung des künstlerischen Prozesses, dadurch die Trennung von Konzeption und Fertigung interessiert Kneer das Oszillieren zwischen den Gattungen Plastik und Malerei. Die farbige Fassung der Kanten, die wellig-zerklüftete, teils fließende Oberfläche und die räumliche Anordnung unterstreichen den objekthaften Charakter dieser den Blick verführenden Trias. Zu den koloristischen Eigenschaften des Materials gehört dank der in mehreren Schichten gesprühten Effektpigmente die Halluzinogen anmutende Wirkung bei Nahsicht und zugleich hohe Lichtreflexion. Fragmente der Betrachtersilhouette werden schemenhaft-verschwommen in dem artifiziell leuchtenden Farbwirbel dieser Allover-Patterns gespiegelt. Tastsinn und Auge werden von den effektvoll auftretenden Oberflächen angesprochen. In ihrer plastisch-sinnlichen Gegenwart ziehen sie die Aufmerksamkeit auf sich und lenken so die Wahrnehmung jedes Einzelnen

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Ursula Ströbele, Berlin Oktober 2014

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